Frau Büser schickt mir eine Notiz auf den Bildschirm, daß gleich die Reuters kommen, ein neuer Sterbefall.
Ich habe keine Zeit und will Sandy mit der Beratung beauftragen.
Ich finde die Amerikanerin unter ihrem Schreibtisch. Es ragen nur die langen, schwarzen, nietenbesetzten Stiefel mit den unglaublich dicken Sohlen und Absätzen unter dem Tisch hervor.
Also greife ich sie bei den Fesseln und ziehe die Göre unter ihrem Schreibtisch hervor.
Sie zappelt und protestiert. Sie habe was im Landesbestattungsgesetz nachschlagen wollen und das Buch sei ihr vor mehreren Wochen hinten vom Schreibtisch runter gefallen und deshalb müsse sie immer mit der Taschenlampe untern Tisch kriechen, da könne sie sich sowieso besser konzentrieren.
Auf ihren Stiefeln ist sie einen halben Kopf größer als ich und das will was heißen...
Sie trägt schwarze Strümpfe mit einem Muster, das aussieht wie Spinnweben. Der Lederrock ist etwas kurz, dafür könnte man aus dem Gürtel fast einen Mantel schneidern, aber vielleicht ist der Rock eigentlich der Gürtel...
Das schwarze T-Shirt hat vorne drauf einen großen gelben Smiley mit Adolf-Frisur und Adolf-Bärtchen.
Seit etwa anderthalb Jahren hat Sandy schwarze Haare, das gibt ihrer recht hellen Haut noch mehr Blässe. Sie ist nicht besonders geschminkt, zumindest nicht so, daß es mir auffallen würde.
An jeden Finger trägt sie einen Ring und die vielen schmalen Silberkettchen an ihrem linken Handgelenk lassen mich darüber nachdenken, wie sie überhaupt noch in der Lage ist den Arm zu heben.
"Gleich kommt die Familie Reuters und ich möchte, daß Du die Beratung machst", sage ich und Sandy bläst statt einer Antwort ihren Kaufgummi zu einer Riesenblase. "Mmmm", macht sie und ich nehme an, daß das ein zustimmender Laut ist. Bei Hinausgehen sehe ich, wie sie ihr T-Shirt über den Kopf streift, sie wird sich also in ihre Kundenkluft werfen.
Das ist auch so eine Sache, die ich nie verstehen werde. Wann immer ich mit einer Frau irgendwohin wollte, ich musste ewig darauf warten, bis sie sich in ihre Kleidung gequält hatte. Merkwürdigerweise muss aber nur der Anlass stimmen und das Anziehen klappt innerhalb von Sekundenbruchteilen.
Ich komme gerade in der Halle an, als die Reuters eintreffen.
Tja, und die stehen da in Lack, Leder und Nieten. Der eine Junge von denen hat so eine Art rosa Hahnenkamm auf dem Kopf und muss mal einen schrecklichen Unfall gehabt haben, jedenfalls wird sein kaugummikauendes Gesicht von Dutzenden von Nieten, Klammern und Metallringen zusammengehalten. Wahrscheinlich fallen die Augenbrauen sofort ab, wenn man da diese Stifte rausmacht.
Und so ähnlich wie der Junge sieht die ganze Familie aus, die aus Tochter, Mutter und Vater besteht.
Hinter mir höre ich am Ende des Ganges Sandy kommen, drehe mich kurz um und sehe, daß sie nur ein paar Augenblicke gebraucht hat, um in einer schwarzen langen Hose, einer weißen Bluse und einer hellgrauen Jacke zu erscheinen.
Hinter meinem Rücken gebe ich ihr ein Zeichen und begleite die Reuters in eines der Beratungszimmer. Dann gehe ich zu Sandy und sage: "Ich glaube, es ist besser, wenn Du wieder das anziehst, was Du vorher an hattest."
"Aber Chef, Du sagt doch immer, ich soll so nicht vor den Kunden herumlaufen."
"Ja, aber die scheinen auf sowas zu stehen."
"Du hast aber mal gesagt, daß wir immer seriös und sorgfältig gekleidet sein sollen, selbst wenn die Kunden sehr locker daher kommen."
"Aber bei denen ist das etwas anderes. Ich habe das Gefühl, daß die sich mit Dir sehr wohlfühlen werden."
"Also gut, kein Problem."
Und was soll ich sagen? Die Familie Reuters, die ihre Oma bestatten ließ, war hoch zufrieden mit Sandy, mit der Beratung und des gesamten Abwicklung.
Ich finde ja, man soll sich nicht verkleiden und verbiegen, wenn man Kunden gegenüber steht.
Manchmal muss man einfach aus Gründen des guten Eindrucks gewisse Kompromisse eingehen, aber wenn man das Glück hat, "echt" auftreten zu können, ist vieles doch wieder einfacher.