“Ja, leck mich doch!” entfuhr es Petermann, der zuerst verstanden hatte, daß es kein Steinchen von der Straße gewesen ist, das da gegen die Karosserie geknallt war. Jojo hatte hingegen nur den Schuß gehört und gar nicht mitbekommen, daß auf der Motorhaube ein etwa zwei Zentimeter langer Schlitz wie eingestanzt entstanden war.
“Da schießt einer!” brüllte Petermann und trat aufs Gaspedal. Jojo wollte sich gerade ducken, wurde jedoch in den Sitz zurück gepreßt, was ihm das Leben rettete, denn wieder fiel ein Schuß, der durch das offene rechte Seitenfenster ins Armaturenbrett einschlug. Wäre Jojo nicht in den Sitz zurück gedrückt worden, hätte die Kugel mit Sicherheit seinen Kopf getroffen.
Der kraftvolle Motor mit dem großen Drehmoment ließ den Wagen förmlich einen Satz nach vorne machen und ein dritter Schuß ging fehl.
Petermann hatte Mühe, das weich gefederte amerikanische Auto auf der engen Straße zu halten.
Ignaz mußte nachladen und die wenigen Sekunden, die das dauerte, genügten dem Kriminalhauptkommissar, seinen Wagen um die nächste Linkskurve zu steuern, wo sie aus dem Blickfeld des Schützen waren.
Petermann wußte das. Alle Schüsse waren von rechts gekommen, jetzt versperrte eine dicht mit Bäumen bewachsene Anhöhe das Schußfeld. Er trat auf die Bremse und brachte den Chevrolet mit einem erstaunlich kurzen Bremsweg zum Stehen.
“Los, Jojo, Du fährst langsam weiter, aber halte Dich ganz links! Die nächste Kurve geht rechts herum, da wird er es dann auf dem geraden Stück wieder versuchen, da dürfte er wieder freie Sicht haben. Aber mach langsam!”
“Damit der mich trifft?”
“Dazu wird es nicht kommen, verlaß Dich drauf!” sagte Petermann und stieg aus.
“Hast Du wenigstens dieses Mal Deine Pistole dabei?” erkundigte sich der Journalist, als er auf den Fahrersitz hinüber rutschte.
Petermann dachte an seinen .45 Colt Government, der zu Hause im Schließfach weggeschlossen war und schüttelte den Kopf.
“Brauch ich nicht”, sagte er und war im Unterholz verschwunden.
Der Kommissar hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wo der Schütze sitzen mußte. Nach der Skizze des Pommeswirtes auf der Serviette sollte die Straße nach der übernächsten Kurve in einem weiten Bogen durch den Wald weiter nach oben führen. Dort sollte das Haus der Brockhagens liegen und etwas unterhalb dieser Stelle mußte der Heckenschütze auf der Lauer liegen.
Petermanns Lungen pumpten schwer und einmal mehr verfluchte sich der Mittfünfziger selbst, weil er keinen Sport trieb. Aber alles Sportliche war ihm suspekt und er hatte nie Spaß daran gefunden. Die sportlichen Pflichtveranstaltungen der Polizei, die er in den Anfangsjahren absolviert hatte, waren ihm ein Greuel gewesen und seitdem er es vermeiden konnte, hielt er sich von allen Sportstunden fern. Petermann war groß gewachsen, breitschultrig und von Natur aus mit einer guten Muskulatur gesegnet. Allein es fehlte ihm an der Beweglichkeit und, was ihm in diesem Moment besonders schmerzhaft bewußt gemacht wurde, an der notwendigen Kondition.
Schon nach etwa zweihundert Metern, die er so lautlos wie möglich, geduckt durch den Wald hangaufwärts gelaufen war, bekam er Seitenstechen und mußte kurz inne halten.
Er stützte sich an einer Birke ab und atmete mehrmals tief durch.
Etwa hundert Meter von Petermanns Standort entfernt, saß Ignaz in höchster Anspannung auf dem Hochsitz und hatte zum wiederholten Male sein Zielfernrohr nachjustiert. Allmählich wurde es immer dunkler im Wald, die Dämmerung hatte voll eingesetzt und er würde nur noch eine Chance haben, den Wagen zu treffen. Dieses Mal würde er auf den rechten Vorderreifen des Wagens zielen, nachdem der Schuß in den Motor und der auf den Beifahrer nichts gebracht hatten.
Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis der Wagen wieder auftauchen würde, er konnte den Motor des Chevy schon wieder etwas lauter hören. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis das Auto auf dem geraden Stück vor der nächsten Kurve erscheinen würde. Ignaz preßte seine Schulter fester an den Kolben des Gewehrs und atmete ruhig und gleichmäßig ein und aus.
“Mist, verdammter”, fluchte unterdessen nicht weit von Ignaz entfernt Kommissar Petermann mit unterdrückter Stimme, denn kaum hatten sich die Seitenstiche gelegt, zerrte es in seinen Waden und der Kommissar merkte, daß er kurz davor war, Wadenkrämpfe zu bekommen. Nächste Woche, ganz bestimmt nächste Woche würde er anfangen Sport zu treiben; oder vielleicht übernächste Woche.
Sorgfältig ließ er seinen Blick durch den über ihm liegenden Bereich des Waldes schweifen. Das Licht reichte gerade noch aus, um etwas sehen zu können. Aber er konnte den geheimnisvollen Schützen nicht ausmachen. Hoffentlich hatte der seinen Standort nicht doch verändert und lauerte jetzt ganz woanders.
Ignaz sah den Chevrolet. Langsam fuhr er ins Schußfeld und Ignaz korrigierte nochmals das Zielfernrohr, das tat er mehr aus innerer Gespanntheit, als das es notwendig gewesen wäre. Dabei stieß er gegen eine der Patronen, die er sauber nebeneinander auf die Brüstung des engen Hochsitzes gestellt hatte, um schnell nachladen zu können. Klirrend fiel die Messingpatrone auf den Holzboden, doch Ignaz kümmerte sich nicht weiter darum, er wollte den richtigen Moment zur Schußabgabe nicht verpassen und er war sich sicher daß er dieses Mal treffen würde.
Petermann hatte das Klirren der Patrone gehört und sofort auch den mit Laub und Astwerk getarnten Hochstand entdeckt. Seitenstiche und Wadenkrämpfe waren im selben Moment vergessen und der Kommissar spurtete so leise und so schnell es ging los.
Ignaz sah durch das Zielfernrohr klar und deutlich den Wagen auf dem gegenüberliegenden, steilen Stück der Waldstraße. Er atmete ruhig und gelassen aus und hielt den Atem an.
Drei bis sechs Sekunden nach dem Anhalten des Atems war der beste Zeitpunkt zur Schußabgabe, das wußte er, so hatte er es gelernt.
Leise zählte er: “Einundzwanzig, zweiundzwanzig…” und drückte den Abzug des Gewehrs langsam durch. Bei ‘dreiundzwanzig’ würde der Wagen in perfekter Position sein, der Reifen würde platzen und trotz der geringen Geschwindigkeit würde der Wagen nach rechts von Weg abkommen und in die kleine Schlucht zwischen den Serpentinen fallen.
“Dreiundzw…”