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Channel: Bestatterweblog Peter Wilhelm
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Californio liegt vor Madagaskar

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Herr Kiesewetter sitzt mir zum dritten Mal gegenüber und möchte seine Bestattung regeln. Ins Meer will er, weil er als junger Mann mal bei der Marine war, aber seinen Wunsch, eines Tages die sieben Weltmeere als Matrose zu bereisen, nie verwirklichen konnte. Stattdessen hat er fast 50 Jahre in der Gummifabrik gearbeitet und Fahrradschläuche und technische Gummiartikel verpackt. Zuletzt war er Oberpacker und hatte immerhin drei türkische Packer unter sich, aber das ist auch schon wieder beinahe 25 Jahre her, er ist jetzt an die 90 Jahre alt.

Ich weiß das alles schon, das erzählt mir Herr Kiesewetter alles nun schon zum dritten Mal. Ich wiederhole mich? Nein, er tut das. Er erzählt es mir heute zum dritten Mal und ist auch schon dreimal bei uns gewesen, letztes Jahr, vor etwa fünf Monaten und jetzt wieder.

Kaum sind wir aufgestanden, in den Ausstellungsraum hinübergegangen und schauen uns die auflösbaren Seeurnen an, tritt er auf einmal einen Schritt zurück, blickt mich ganz befremdlich an und fragt: "Junger Mann, was wollen Sie von mir? Kennen wir uns? Sind sie ein Freund meiner Tochter?"
Seine Tochter Henriette hat Herr Kiesewetter längst überlebt, sie ist vor ein paar Jahren gestorben, kurz nach Kiesewetters Frau Elisabeth. Jetzt ist er ganz alleine und seine Verwirrtheit und Vergesslichkeit nimmt immer mehr zu.

Als er das erste Mal bei uns war, schien er noch ganz klar und vernünftig. Wir haben eine ganz normale Vorsorge für eine Seebestattung ausgetüftelt und er hat die Kosten dafür schon längst durch Hinterlegung eines Sparvertrages bei seinem Anwalt bezahlt.
Dieser Anwalt ist jetzt auch sein Betreuer, betreut neben Herrn Kiesewetter noch beinahe 30 andere Personen und kümmert sich, soweit man das ohne sein Büro zu verlassen machen kann, rührend um den alten Mann.
Finanziell ist immer alles bestens geregelt, alle Behördenbriefe gehen über den Anwalt, nur um die täglichen Belange des alten Herrn kümmert sich im Grunde niemand.

Wir nehmen Herrn Kiesewetter mit stoischer Geduld, warum sollen wir uns über ihn aufregen?
Wenn er kommt, dann wissen wir ja schon, was er wollen wird und er bekommt Kaffee, Gebäck, einen bequemen Sessel und einer von uns hört sich seine Lebensgeschichte an.

Vergisst er zwischendurch, wen er vor sich sitzen hat, so hilft ein Trick, den wir uns erarbeitet haben.
Menschen mit dieser Art von Altersverwirrung erinnern sich immer ganz besonders gut an Dinge, die schon sehr lange zurückliegen. Sie wissen manchmal, wenn sie direkt von der Toilette kommen, nicht mehr, daß sie eben Pipi machen waren, aber sie erinnern sich noch an jede Zeile von Schillers "Glocke", die sie in Kindestagen einmal auswendig gelernt haben.

Bei Herrn Kiesewetter ist es das Lied "Wir lagen vor Madagaskar" an das er sich gerne erinnert und wenn man es nur ganz eben anstimmt, dann singt er sofort mit, strahlt über das ganze Gesicht und beim Refrain klatscht er begeistert in die Hände. Das scheint sein Gehirn immer wieder ein bißchen anzukurbeln, denn danach kann man für eine ganze Weile recht normal mit ihm sprechen.
Dieses Mal habe ich bereits zum zweiten Mal "Wir lagen vor..." angesungen und jedesmal war er schon beim Wort Madagaskar mit dabei und sang mit. Auch aus dem Büro drüben klingt Gesang, die Mädels singen mit. Frau Büser kann zwar nur die erste Strophe und Sandy kennt das Lied gar nicht, singt aber trotzdem mit, nur Antonia hängt an den Refrain immer ein Solo an "Blow Boys blow, for Californio..."

Das gehört zwar gar nicht zum Madagaskar-Lied, aber Antonia findet es schön und Herr Kiesewetter strahlt und klatscht.


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