So ein Bestattungswagen ist schon ein riesiges Geschoß!
Hinzu kommt, daß man durch den Rückspiegel innen im Wagen nichts sieht und daß das Fahrzeug auch noch hinten etwas breiter ist, sodaß die Außenspiegel auch nur begrenzt helfen.
Rückwärts zu fahren, ist manchmal eine Kunst.
Bestatter können das und alle Bestatter können, ohne sich umzudrehen, alleine mit den Außenspiegeln einparken.
Und trotzdem, tausendmal berührt, tausendmal…. und dann doch!
Sandy und ich fahren rückwärts aus der Einfahrt der Pathologie heraus, hinten drin den Sarg mit Frau Trudel Wusch.
Sandy scherzt noch: “Frau Wusch, sind’se ma’ so lieb und gucken, ob von hinten einer kommt?”
Ich schaue Sandy vorwurfsvoll an, es ist mehr ein gespielter Vorwurf.
Frau Wusch muß das aushalten können, die hat uns vorher mit ihren gut drei Zentnern gehörig gequält.
Ja, nee, is’ klar, ich bin ja der Depp! Ich hätte Sandy aussteigen lassen und mich einweisen lassen sollen. Sie hätte schauen müssen, ob da einer kommt oder steht…
Meine Schuld, meine übergroße Schuld, ich geb’s ja zu.
Es ist nur eine wenig befahrene Seitenstraße und genau in dem Moment, als ich den langen Wagen vorsichtig mit eingeschaltetem Warnblinklicht aus der Einfahrt der Pathologie zurückgesetzt hatte, macht es Bums-Knirsch und ich bin an den Sprinter-Lieferwagen von Yilmadin Özladan gefahren.
Nur so eben mit der linken hinteren Stoßstange habe ich seinen Wagen etwa in der Mitte an der Seite geditscht. Es ist eine 10 Zentimeter lange Schramme mit Beule entstanden.
Herr Özladan, der dort am Straßenrand geparkt hatte und gerade losfahren wollte, spring aus seinem Wagen, schlägt die Hände vor sein Gesicht, sinkt auf die Knie und beginnt zu jammern.
Mir sinkt das Herz in die Hose und ich steige aus. Um Himmels Willen, habe ich da jemanden überfahren? Einen seiner Verwandten, der neben dem Auto stand?
“”Verflucht sei der Tag! Oh sieh mal, was Du gemacht hast! Unglück, o großes Unglück!” jammert Herr Özladan, dann springt er auf baut seine gesamten 169 Zentimeter zu voller Größe auf und legt, mir tief in die Augen blickend, seine Hand auf meine Schulter: “Du Mörder, Du!”
Ich stammele eine Entschuldigung. Nehme seine Hand und schüttele sie: “Wir regeln das, ist doch nur ‘ne Kleinigkeit, tut mir wirklich leid, war mein Fehler, die Versicherung wird alles bezahlen.”
“Du bringst mich und meine Familie um! Das Auto, dieses Auto, mein Auto, das ist meine Existenzgrundlage, damit verdiene ich das Geld für mich, meine Frau und meine zwei Kinder und die zwei Mädchen. Wie soll ich jetzt überleben? Wir werden alle verhungern, auch mein alter Vater und meine Mutter und der Vater meiner Mutter!”
“Ich verstehe ja, daß Sie sich ärgern, aber das kommt doch alles wieder in Ordnung”, versuche ich den Mann zu beruhigen und Sandy, die inzwischen auch ausgestiegen ist, fragt: “Soll ich die Bullen rufen?”
“Nee!”
Herr Özladan wischt mit der flachen Hand über die wirklich kleine Beule und Schramme und schüttelt dann seine Fäuste in meine Richtung: “Das wird teuer, mein Freund, das wird teuer! Warte, bis meine Brüder alle hier sind!”
Er telefoniert mit dem Handy.
Kommt jetzt die geballte Macht des osmanischen Reiches über mich? Werden die Brüder Krummsäbel mitbringen?
Statt der von mir befürchteten zwanzig Brüder kommen nur zwei, Mursal und Ökmen.
Sie sind auch nicht Herrn Özladans Brüder, sondern Söhne seines Oheims.
Mursal ist Gebrauchtwagenhändler und übernimmt die Verhandlungen. “Da muß die ganze Frontschürze runter, Ausbeulen, Spachteln, zweimal Grundieren und dann Lackieren, das wird teuer!”
Und Ökmen, Betreiber eines Import- und Export-Ladens in der Nachbarstadt schaut nur kurz von seinem Handy hoch und meint: “Verdiensteaußefalle muß rechnen! Verdiensteaußefall is’ sehr wischtisch!”
“Vier Tage minimum!”, sagt Mursal und streicht bestimmt zum zwanzigsten Mal mit der flachen Hand über die kleine Schramme.
“Oh nein, dann kann ich eine Woche nicht arbeiten, wovon sollen meine Kinder leben?”, jammert Özladan.
“12.000 Euro”, sagt Mursal und spricht dabei das Wort Euro wie E-Uro aus.
“Was 12.000 Euro?”, frage ich.
Ökmen ist immer noch mit seinem Handy beschäftigt und erklärt, ohne hochzuschauen: “Verdiensteaußefalle, Chef!”
Sandy mischt sich in das Gespräch ein: “Komm, du bekommst 100 Euro und dann is’ gut, Kotzmann.”
“Nix Kotzmann, Ökmen!”
Herr Özladan geht in die Knie, fast berühren diese den Boden, eine Haltung, die ich nicht einmal im Traum einnehmen könnte, vermutlich kann er das vom Beten in der Moschee oder so. “Die Sonne wird auf mich herabstürzen! O, welche ein Unglück! Mein Auto! Mein armes, schönes, neues Auto! Wir werden alle verhungern!”
“200 Euro!”, sage ich, hole die Brieftasche aus der Jacke und ziehe die vier Fünfziger heraus, die ich mir morgens am Automat geholt hatte. “Mehr gibt’s nicht, mehr habe ich nicht. Ich habe sechs Kinder, eine geschiedene Frau, eine Ehefrau, vier alte Eltern, zwei Großmütter und einen Urgroßvater zu ernähren.”
Sandy nickt heftig und bestätigt: “Stimmt, und noch drei Onkels!”
Die kleine Lügengeschichte ist Trumpf! Özladan hat dem nicht genug entgegenzusetzen, er kommt nur auf eine Frau, vier Kinder und drei Ahnen.
Mursal und Ökmen schauen sich ratlos an und Mursal fällt nur ein, nochmals zu wiederholen: “Zweimal grundieren!”
Ich drücke Özladan die 200 Euro in die Hand, er nimmt sie und steckt sie schnell weg. Dann schlägt er in meiner offene Hand ein und der Handel ist besiegelt.
Immer wieder mal fällt mir der Lieferwagen von Herrn Özladan von da an im Straßenverkehr auf. Die kleine Beule hat er immer noch, es sind sogar inzwischen einige neue hinzu gekommen. Verhungert scheint er aber deswegen nicht zu sein.
Bild: Mercedes Sprinter von Sven Storbeck. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0.