Das Georg-Flöter-Haus ist eines der hässlichsten Altersheime, die ich jemals gesehen habe. Es handelt sich bei dem Bau um das ehemalige Verwaltungsgebäude der Maschinenfabrik Walter F. Baggermann & Söhne GmbH & Co. KG und so sieht es von außen und vor allem von innen auch aus.
Eine schmucklose Fassade mit gleichförmigen quadratischen Fenstern, der Haupteingang direkt an der Kastanienstraße, einer viel befahrenen Hauptverkehrsstraße, und im Inneren nichts als lange, schmale, schier endlose Gänge mit einer im Viermeterabstand aufgereihten Folge von Türen und das auf sechs Etagen.
In beinahe jedem dieser recht kleinen Zimmer sind zwei Bewohner untergebracht, nur die etwas Betuchteren haben ein Zimmer für sich ganz alleine und konnten einige wenige Möbelstücke von zu Hause mitbringen.
Zu Hause? Zu Hause fühlt sich im Georg-Flöter-Haus niemand, zumindest habe ich diesen Eindruck gewonnen, denn alle, mit denen ich sprach, fühlen sich dort wie im Wartesaal des Todes. Schmucklos, abstoßend und unherzlich präsentiert sich das Haus und die wenigen Dinge, die man mit viel Phantasie dem Bereich Dekoration und Wohnambiente zuordnen könnte, erschöpfen sich in jeweils einer jämmerlich dürren Yuccapalme pro Etage und einem doch eher ungepflegten großen Aquarium in der kleinen Eingangshalle.
Dort sitzt, wie einst der Pförtner der Maschinenbauverwaltung, die immer gleiche Schwester Agnes hinter dickem Glas und röhrt die Besucher durch ein zellophanvergittertes Sprechloch an: "Zum wem?"
"Zu Frau Vogelsberger, bitte."
"Vogelsberger Anna, 23.1.1923 oder Vogelsberger, Käthchen, 1.12.1919?"
"Zu Tante Kätchen."
"Aufzug links, dritter Stock, Zimmer 325."
Ratschpeng und schon ist die kleine Glasluke wieder zu. Kein Lächeln, kein Gruß, kein Bitteschön, kein Dankeschön, einfach nur Ratschpeng.
So ähnlich wie den Angehörigen von Tante Kätchen, geht es jedem Besucher im Georg-Flöter-Heim und jedesmal, wenn ich dort hin muß, etwa um mit einem Bewohner oder einer Bewohnerin über eine Bestattungsvorsorge zu sprechen, geht es auch mir so. Obwohl - das kommt nicht ganz so oft vor, wie in manchen anderen Heimen, denn es muß schon ein ganz neuer Bewohner sein, der noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist, damit er sich für unser Institut entscheidet. Im Georg-Flöter-Heim sieht es die Verwaltung am liebsten, wenn alle Bewohner eine Vorsorge bei der Pietät Eichenlaub abschließen. "Die machen das immer für uns", sagt die Heimleiterin und zeigt nicht ohne Stolz auf drei winzige Flachbildfernseher, die in der kargen ehemaligen Verwaltungskantine direkt nebeneinander von der Decke hängen und alle in großer Lautstärke ein jeweils anderes Programm zeigen. "Die sind vom Herrn Scherer von der Eichenlaub, die hat der uns geschenkt."
Ich schaue sie ebenso vielsagend, wie verständnislos an, denn ich kann es nicht begreifen, daß sie das so freimütig und offen erzählt. Letzt Endes ist das Bestechung, die Pietät Eichenlaub verschenkt drei Fernseher für zusammen vielleicht 1000 Euro und bekommt dafür im Jahr 50 bis 100 Bestattungen auf dem Silbertablett serviert.
Nein, so sei das ja nicht, schließlich seien die Fernseher nicht für sie persönlich gewesen, sondern als Spende für die alten Menschen abgegeben worden und dafür hätte die Pietät Eichenlaub sogar eine Spendenquittung von der als gemeinnützig anerkannten Georg-Flöter-Gedächtnis-Stiftung e.V. erhalten. "Sie sehen, das hat alles seine Richtigkeit und erst letztens haben wir für jeden Bewohner einen wunderbaren Schlüsselanhänger mit dem Eichenlaub-Symbol und einem Einkaufswagenchip bekommen."
Tolles Geschenk für alte, gebrechliche Leute, die ganz überwiegend das Heim nicht mehr verlassen können und sowieso kein Geld zum Einkaufen haben...
"Wir haben im Keller ständig so eine Abholwanne von der Pietät Eichenlaub stehen, da tun wir dann die Toten rein, wenn der Arzt da war, der kommt immer um 17 Uhr, und irgendwann wenn's dunkel ist, kommen die und holen die Leichen da ab. Wir haben mit denen keine Arbeit, keinen Ärger und die machen das schon seit Jahren für uns."
Ich muß gar nicht fragen, was mit den anderen Toten ist, wenn die 'Wanne' unten im Keller gerade mal belegt ist, eine Kühlung oder einen extra Raum für Verstorbene hat das Georg-Flöter-Heim nämlich nicht.
Die bleiben einfach auf dem Zimmer liegen, das war schon immer so in diesem Heim und die Bewohner kennen das schon.
Wenn vor einem Zimmer ein Stuhl steht, auf dem ein alter Mensch sitzt, der mit glanzlosem Blick stur die Wand gegenüber anschaut, dann ist es warm in den Zimmern und in dem Zimmer, vor dem er sitzt, liegt sein Zimmergenosse oder seine Zimmergenossin und gammelt, seit Stunden in Todesstarre verharrend, vor sich hin.
"Gut, daß Ihr kommt, die Frau Kohlsupp müffelt schon", sagte einmal eine alte Dame, von der ich weiß, daß sie ihr ganzes langes Berufsleben lang Kindern das Lesen und Schreiben beigebracht hatte.
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Es ist draußen schon dunkel, endlich dunkel genug, daß wir ins Georg-Flöter-Heim fahren können, denn dort darf man ja nur dann Verstorbene abholen, wenn's keiner sieht. Manni ist noch in der Firma und hat Särge gekloppt, wie wir das nennen, wenn die roh aus der Fabrik angekommenen Särge innen mit der vorgeschriebenen Schichtung und Bespannung versehen und die Griffe und Sargfüße angebracht werden.
Ich bestelle keinen Extrafahrer, den ich bezahlen müßte, sondern beschließe, mit Manni zu fahren. So fahre ich mit dem Aufzug zu Manni runter und wir beladen den Bestattungswagen mit einer Abholtrage, kontrollieren noch einmal den silbernen Bestatterkoffer und fahren zusammen zum Heim des grauen Grauens.
Unterwegs schimpfen wir uns gegenseitig was über dieses Heim vor und jeder von uns kennt eine besondere Geschichte von dort. Manni erzählt, er sei einmal mit einem Fahrer dort gewesen um im Zimmer 215, die Nummer würde er niemals vergessen, einen 89-jährigen Mann abzuholen. Wie so oft hatte sich der Mitbewohner mit einem Stuhl auf den Gang gesetzt und als Manni den ansprach, ob das das Zimmer von Herrn Wolpert sei, ist der Alte tot vom Stuhl auf den Gang gefallen.
Hinterher habe es dann geheißen, der sei erst Minuten vorher gestorben, doch Manni schwört, bei dem hätte die Leichenstarre schon längst eingesetzt gehabt, ein untrügliches Zeichen, daß der Verstorbene über viele Stunden tot auf dem Stuhl gesessen haben musste, ohne daß es jemand bemerkt hatte.
Das könne gar nicht sein, hieß es damals von den Pflegerinnen, auf dem Karteiblatt seien regelmäßig die Kennziffern für die einzelnen Pflegedienstleistungen eingetragen worden.
Ich kenne eine andere Geschichte. Mit einem anderen Fahrer hatten wir aus einem Zimmer die verstorbene Frau Sattler abgeholt, ein kleines, schmales Mütterchen im oberschlesischen dunklen Kleid mit den kleinen weißen Blümchen. Pflegerin Renate Grobklotz, die trotz ihres Namens zu den wirklich netten Leuten im Georg-Flöter-Heim gehört, war uns noch hinterher gelaufen und hatte uns eine LIDL-Tüte mit den persönlichen Habseligkeiten der Verstorbenen mitgegeben. "Da ist noch frische Unterwäsche, der Rosenkranz und das Gebiss der alten Frau drin."
In unserem Vorbereitungsraum hatten wir Frau Sattler dann zurecht gemacht und ihr unter anderem das schlecht sitzende Gebiss wieder eingesetzt. Diese Zähne mussten ihr zu wesentlich besseren Zeiten mal gepasst haben, jedenfalls bekam unser Prosektur-Mitarbeiter und Werkstattleiter Herr Huber die Zähne nur mit einem speziellen Kleber fest, den man u.a. auch für die Lippen nehmen kann. "Nur mit dem Kleber ist es gegangen, das war vielleicht eine schwere Geburt, aber jetzt sieht sie schön aus", lautete hinterher sein Rapport und kaum war der Kleber unlösbar getrocknet, ging das Telefon und ein total wütender Mann beschimpfte uns, weil wir angeblich die falschen Zähne mitgenommen hätten. Die, die wir mitgenommen hätten, gehören nämlich seiner Mutter, Frau Schlotzki, und die könne mit den Zähnen von der toten Frau Sattler nicht kauen...
Ich weiß jetzt nicht, was das Georg-Flöter-Heim damals gemacht hat, um Frau Schlotzki wieder zu Zähnen zu verhelfen. Jedenfalls konnten wir ihr die, die bei Sattler im Mund an den Kiefer geklebt waren, nicht mehr geben. Manni meint, die hätten Frau Schlotzki so lange irgendwelche Zähne aus dem Fundus gegeben, bis passende dabei gewesen seien; ich hingegen tendiere mehr zu der Theorie, daß die alte Schlotzki von dem Tag an nur noch Suppe bekommen hatte.
Heute ist die Wanne im Keller von einem dicken Mann belegt, das kann nicht unser Kandidat sein, denn wir sollen eine knapp neunzig Jahre alt gewordene Frau abholen. Also geht's hoch in die Halle, wo Schwester Agnes, ohne hochzuschauen, kurz das runde Glastürchen hinter dem vergilbten Zellophan aufmacht und "Zimmer Dreielf!" brüllt. Ratschpeng.
Mit dem Aufzug geht es hoch, 311 liegt gleich gegenüber vom Aufzug. Wir öffnen vorsichtig die Tür, es ist ein Zweibettzimmer, es ist düster. Ein Zimmer wie viele in diesem Heim. Im Schein von Mannis Taschenlampe sehen wir an der Wand über jedem Bett jeweils ein Foto von einem jungen Soldaten in Wehrmachtsuniform, untrügliches Zeichen für mehr als 60-jährige Witwenschaft der Zimmerbewohnerinnen...
Manni läßt den Lichtkegel über die Betten wandern, in jedem liegt eine regungslose Gestalt, weiße Bettdecken. Wir schauen uns fragend an, da kommt auf einmal unter der Bettdecke des linken Betts eine alte, magere, knochige Hand hervor und zeigt mit ausgestrecktem Zeigefinder auf das andere Bett und aus den Tiefen des Kopfkissens sagt eine hohe Altfrauenstimme: "Die da! Ich nicht!"
Wir müssen ein Grinsen unterdrücken, schalten die Deckenbeleuchtung ein und tun schnell unsere Arbeit und nicht ein einziges Mal rührt sich die noch lebende Frau oder schaut zu uns herüber.
Auf der Rückfahrt macht Manni die Situation nach. Er lässt den Unterkiefer schlaff herunterhängen und sagt mit ton- und kraftloser Stimme bei ausgestrecktem Zeigefinger: "Die da! Ich nicht!"
Wir lachen...
Was soll man auch sonst tun.